«Es ist möglich, 140 Kranke aufzunehmen, die als Glieder einer einzigen Familie betrachtet und von den Hauseltern und Schwestern fürsorgend gepflegt werden.»

Herr Albert Hinderer, Sie übernahmen 1921 das Schlössli von Ihrer Mutter Friederike. Nach dem Krieg war die Not im Lande gross. Das spürten auch kleine Anstalten wie das Schlössli – die Patienten stammten oft aus ärmlichen Familien, die sich das Kostgeld für ihre kranken Angehörigen nicht mehr leisten konnten. Es herrschte Arbeitslosigkeit. Ein äusserst schwieriger Start im Alter von 27 Jahren.

Albert Hinderer: «Ich sah in meiner frühesten Jugend, wie einfühlsam meine Mutter Friederike mit den Kranken umging, wie sie sich Zeit für sie nahm und wie erfüllend der Austausch mit ihnen sein konnte. Diese Eindrücke prägten mein ganzes Leben. Mir blieben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten natürlich nicht verborgen. Aber der innige Wunsch, das Werk meiner Eltern in ihrem Sinne und im Sinne Gottes fortzuführen, für seelisch kranke Menschen da zu sein, überwog bei weitem.»

«Mir blieben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten natürlich nicht verborgen. Aber der innige Wunsch, das Werk meiner Eltern in ihrem Sinne und im Sinne Gottes fortzuführen, überwog bei weitem.»

Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass ein unfassbares Ereignis schwer auf Ihrem Herzen und dem Ihrer jungen Frau Elsa Hinderer-Bollier lastete. Was geschah im August 1920 genau?

Albert Hinderer: «Ein Patient hatte im Zustand geistiger Umnachtung unser dreijähriges Töchterchen Elseli mit einem Beil erschlagen. Diese Wahnsinnstat geschah am 12. August 1920. Durch Gottes Gnade hat dieses schwere Erleben uns den Kranken nicht entfremdet.»

Vor Ihrer Zeit blieb das Schlössli während drei Jahrzehnten eine kleine Anstalt. Die Jahresberichte wiesen über all die Jahre jeweils zehn bis zwanzig Patienten aus. Doch unter Ihnen entwickelte sich der Betrieb innerhalb von zehn Jahren zur Nervenheilanstalt mit über 100 Patienten. Was haben Sie im Vergleich zu Ihren Eltern anders gemacht?

Albert Hinderer: «Dafür gibt es mehrere Gründe. Wir bauten unsere Anstalt laufend aus. Im neuen Wachhaus konnten erstmals unruhige Kranke aufgenommen werden. Zudem wurde aufgrund der angespannten Versorgungslage mit dem Kanton ein Vertrag abgeschlossen. Das Schlössli wurde so offizielle Versorgungsanstalt des Kantons Zürich. Aber auch die Betreuung wurde anspruchsvoller. Aus Wärterinnen und Wärtern wurden ausgebildete Schwestern und Pfleger. Das Schlössli wurde 1922 als Ausbildungsstätte anerkannt. Und bereits drei Jahre später beendeten die ersten Psychiatrieschwestern und -pfleger ihre Ausbildung. Trotz dieses Wachstums war es Elsas und mein Wunsch, den familiären Charakter unserer Institution zu bewahren.»

«Trotz des Wachstums war es Elsas und mein Wunsch, den familiären Charakter unserer Institution zu bewahren.»

Aber wie ist das möglich? Wie funktioniert eine so grosse Familie?

Albert Hinderer: «Es ist möglich, 140 Kranke aufzunehmen, die alle als Glieder einer Familie betrachtet und von uns als Hauseltern sowie einem Stab an dienstfreudigen Schwestern fürsorgend gepflegt werden. Unser Ziel war immer, Nerven-, Gemüts- und Geisteskranken eine Stätte der Ruhe und des Friedens zu bieten, sie zu schützen und vor schädlichen Einflüssen zu bewahren. Darüber hinaus wollten wir ihnen zu einer kraftvollen Lebensbejahung und zu einer gesunden Einstellung sich selbst gegenüber und gegenüber der Umwelt verhelfen.»

Ihre Patienten leiden an unterschiedlichen Krankheiten. Welche wurden im Schlössli behandelt?

Albert Hinderer: «Bei meiner Übernahme des Schlössli wurden alle einigermassen ruhigen Formen von Psychosen und Neurosen beiderlei Geschlechts aufgenommen. Ferner kamen Menschen zu uns, die nervlich belastet oder sich sonst geschwächt fühlten, Erholungs- und Pflegebedürftige, aber auch Süchtige für Entziehungskuren. Neben der individuellen ärztlichen, seelischen und körperlichen Behandlung legten wir grosses Gewicht auf eine dem jeweiligen Zustand angepasste Beschäftigungstherapie – sei es im Landwirtschaftsbetrieb, im Gartenbau, beim Korbflechten oder Teppichweben.»

Was halten Sie von natürlichen Heilmethoden?

Albert Hinderer: «Sehr viel! Unsere Nervenheilanstalt war prädestiniert für natürliche Heilfaktoren wie Licht, Luft und Wasser. Wir hatten insgesamt 15 Wannenbäder mit Kalt- und Warmwasseranlagen für alle gewünschten Bäder wie Fichtennadel, Heublume, Sole, Eukalyptus, etc. Zudem boten wir auch indische Schaum-Schwitzbäder an. Ein Sonnen- und Lichtbad stand ebenfalls zur Verfügung. Wir versuchten, alles Steife, Schematische und Anstaltsmässige möglichst zu vermeiden. Zum familiären Charakter trugen auch Aktivitäten wie Gesänge, Musik, Spiele, Turnen und Reiten bei. Ich war überzeugt, dass alternative Therapieformen noch in 100 Jahren ein Trend sein werden.»

Auf die Zeit des enormen Wachstums folgte eine Zeit der Innovation. Neue Behandlungen wurden implementiert und neue Strukturen ausprobiert.

Albert Hinderer: «Ja, die ärztliche Psychiatrie spielte eine immer grössere Rolle. Da wir immer offen für Neues sein wollten, besuchten Elsa und ich Vorlesungen über klinische Psychiatrie im Burghölzli. Wir entschlossen uns, einen Arzt einzustellen, der im gleichen Sinn und Geist und auf dem Boden des Glaubens mit uns zusammenarbeitete. Der erste war Dr. med. Werner Scheidegger. Er blieb jedoch nur drei Jahre. Auf ihn folgte Dr. Heinrich Künzler. Er war Chefarzt von 1934 bis 1944. In diesen 10 Jahren veränderte sich unser Behandlungsspektrum enorm.»

«Dr. Heinrich Künzler war Chefarzt von 1934 bis 1944. In diesen 10 Jahren veränderte sich unser Behandlungsspektrum enorm.»

Inwiefern?

Albert Hinderer: «Die moderne Psychiatrie machte mittlerweile einen Unterschied zwischen Geisteskrankheiten, z. B. Schizophrenie, Epilepsie und Altersdemenz, und Seelenkrankheiten als Folge von äusseren Faktoren, Kindheitstraumata, Verlustereignissen und so weiter. Seelenkranke waren mit Psychotherapie zu behandeln, Geisteskranke hingegen mit Medikamenten oder körperlichen Kuren wie Fieber- Schlaf- und Insulinkuren oder Schocktherapien. Diese erzielten gelegentlich verblüffende Resultate.»

1944 standen Dr. Künzler ein Oberarzt und vier bis fünf Assistenzärzte zur Seite. Wurde das Schlössli nun von einer kühlen, rationalen und wissenschaftsgestützten Psychiatrie dominiert?

Albert Hinderer: «Im Gegenteil! Das Schlössli blieb eine entschieden christliche Institution. Die Geisteshaltung, mit der Ärzte und Pflegende, Hauseltern und Personal den Kranken begegneten, blieb unverändert. Dies erfüllte mich mit grosser Genugtuung.»

Vielen Dank, Herr Hinderer, für dieses fiktive Gespräch.

Albert Hinderer wirkte nicht nur als Anstaltsleiter, sondern auch als Bauherr. Gebaut wurde ein Männerhaus, ein Wachhaus für 70 unruhige Patienten, ein Saalgebäude mit Küche und Wäscherei und ein Wohnhaus mit Büros. 1941 kaufte Albert Hinderer das Bergheim in Uetikon am See.

Auch den Landwirtschaftsbetrieb liess Albert Hinderer erblühen – für ihn zeitlebens eine Herzensangelegenheit. 1931 baute er ein markantes Stallgebäude. In den frühen 1950er Jahren besass die Gutswirtschaft Schlössli rund 80 Kühe und 70 Jungtiere. 75 Hektaren Kulturland wurden bewirtschaftet und rege Viehhandel betrieben – bis nach Argentinien und Brasilien.

Ein aus heutiger Sicht schwer verständliches Ereignis geschah 1931: Albert Hinderer übergab das Schlössli dem «Gemeinnützigen Verein für christliche Liebestätigkeit in der Pflege von Nerven- und Gemütskranken». Es war sein Wunsch, das Werk vom privaten Standpunkt auf Vereinsboden zu stellen und damit den Charakter der Gemeinnützigkeit für alle Zeiten zu bewahren. Trotz der nicht einfachen Führungsstruktur entwickelte sich das Unternehmen gut. Albert Hinderer durfte noch erleben, wie sein Sohn Max 1948 ins Unternehmen eintrat. Albert wurde bis zu seinem Tod am 9. April 1954 zuhause von seinen Liebsten gepflegt und umsorgt.