«Zeiten des Umbruchs»

Frau Elisabeth Bosshard-Hinderer, was löste der Tod Ihres Vaters für Sie persönlich und für das Unternehmen aus?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Tiefe Trauer und Erschütterung. Ich erkannte, jetzt bist du allein und musst die Last der Verantwortung auf deine Schultern nehmen. Als einzige war ich durch meine Grosseltern und meinen Vater seit Kindsbeinen mit dem grossen Unternehmen sehr vertraut und seit einem Jahr im Schlössli tätig. Die Arbeit musste weiter gehen, obwohl das Schlössli mit meinem Vater Kopf, Herz und Hand verloren hatte.»

Sie waren damals 23 Jahre jung – wie sollte es mit dem Unternehmen weitergehen?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Die Familie stand vor der Entscheidung, den Betrieb als Familienunternehmen weiterzuführen oder zu verkaufen. Ein Verkauf an den Kanton Zürich wurde erwogen, auch ein Kaufangebot von Dritten lag vor. Nach intensiven Gesprächen innerhalb der Familie, aber auch mit Verwandten und externen Beratern, haben wir uns dazu entschlossen, das Unternehmen weiterzuführen.»

«Die Familie stand vor der Entscheidung, den Betrieb als Familienunternehmen weiterzuführen oder zu verkaufen.»

Die Klinik mit einem grossen Neubau vor der Fertigstellung, das Bergheim in Uetikon und den Gutsbetrieb weiterzuführen – wahrlich eine grosse Herausforderung!

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Eine Riesenherausforderung! Ich konnte meine Mutter überzeugen, dass sie all meiner Kraft und meiner Hingabe vertrauen und das Vorhaben mit mir wagen könne. Für mich gab es keine andere Wahl. Genauso wie mein Vater das Schlössli von seinem Vater übernommen hatte, wollte auch ich es von meinem Vater übernehmen – und das Werk meiner Vorfahren mit der gleichen inneren Überzeugung begleiten. Das Erbe war für mich Verpflichtung und Auftrag.»

Aber wer sollte das Unternehmen führen?

Mein Vater hinterliess eine wohlgeordnete und stabile Betriebsstruktur. Die dringendste Aufgabe war es, einen neuen Chefarzt zu finden. Im Herbst 1968 wurde Dr. med. Edgar Heim ins Schlössli berufen, ein junger, vielseitig ausgebildeter Psychiater. Im Frühling 1969 konstituierte sich ein neuer Verwaltungsrat unter dem Präsidium von Marguerite Hinderer-Holder. In den folgenden Jahrzehnten waren wechselnde Familienmitglieder und externe Fachleute im Verwaltungsrat tätig.

Zur selben Zeit hat sich die Welt nicht nur für Sie, sondern auch für uns alle verändert. Die 68er Generation verursachte einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft. Wir erinnern uns an die Globuskrawalle. Auf breiter Front wurden Autoritäten wie Kirche, Schule und Elternhaus niedergerissen. Über Nacht öffneten sich die Lebensstile, vermischten sich die Geschlechterrollen und verflachten Hierarchien. Wie beeinflussten die 68er die Psychiatrie?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Die Idee der Antipsychiatrie machte sich breit. In den Augen der revolutionären Linken wurde die Psychiatrie zum langen Arm der Bourgeoisie – und der männliche Psychiater zum patriarchischen Beherrscher. Die Existenz psychischer Krankheiten wurde negiert und die Abschaffung der psychiatrischen Krankenhäuser gefordert.»

Und wie begegnete die Psychiatrie im Allgemeinen dieser Zeit?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Da muss ich etwas ausholen. Begriffe wie Sozialpsychiatrie, Milieutherapie und Therapeutische Gemeinschaft begannen sich zu etablieren. Die Sozialpsychiatrie setzte sich für eine differenzierte, dem Patienten angepasste, stationäre und ambulante Behandlung ein, für präventive Krisenintervention und berufliche Wiedereingliederung. Sehr wichtig wurden Ambulatorien, Sozialdienste, Wohnheime, geschützte Werkstätten und der Abbau stationärer Betten, also die Verkleinerung der psychiatrischen Krankenhäuser. Die Milieutherapie fasste alles zusammen, was im physischen und sozialen Umfeld des Patienten zu seiner Gesundung beiträgt. Also genau das, was wir im Schlössli bereits seit Generationen lebten. Und die Therapeutische Gemeinschaft fokussierte darauf, innerhalb einer Gruppe gemeinsam Probleme zu diskutieren und Lösungsansätze zu erörtern.»

Und wie setzte das Schlössli im Besonderen diese neuen Ansätze um?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Dr. Edgar Heim ging mit Verve daran, eine Therapeutische Gemeinschaft aufzubauen – übrigens die erste an einer Schweizer Psychiatrieklinik. Der ehrgeizige junge Arzt wusste seine Mitarbeitenden zu motivieren, verbreitete Optimismus und erzeugte eine Aufbruchstimmung. 1972 wurden im Schlössli ein Sozialdienst und ein Ambulatorium eingerichtet, 1978 entstand das Psychiatriezentrum Wetzikon. Das Schlössli war unter Heims Ägide zum Vorbild einer milieutherapeutisch geführten psychiatrischen Klinik geworden. Aber damit nicht genug! Das Schlössli wurde in dieser Zeit auch zur gefragten Partnerin in der psychiatrischen Ausbildung an Universitäten, psychotherapeutischen Instituten, Pflegeschulen und paramedizinischen Ausbildungsstätten. Darüber hinaus erlaubten bescheidene Drittmittel, etwas Forschung zu betreiben, Symposien zu veranstalten und die Weiterbildung der eigenen Mitarbeitenden systematisch zu fördern. – Kurzum, das ‘Schiff war auf flottem Kurs’.»

«Das Schlössli wurde zur gefragten Partnerin in der psychiatrischen Ausbildung an Universitäten, psychotherapeutischen Instituten, Pflegeschulen und paramedizinischen Ausbildungsstätten.»

1978 folgte Dr. Edgar Heim dem Ruf als Professor an die Universität Bern. Er bezeichnete seine Oetwiler Jahre als seine schönsten Berufsjahre. Um bei Ihrem Bild zu bleiben: Gab es danach keinen Gegenwind und keine Untiefen, die das Schiff ins Stocken brachten?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Sie scheinen unser Unternehmen bereits gut zu kennen! Die Veränderung blieb nun für einige Zeit die einzige Konstante im Unternehmen. Dass wir uns richtig verstehen: Die Grundsätze der Therapeutischen Gemeinschaft waren zwar eine sehr wertvolle Erneuerung in der Arbeit mit den Patienten. Aber leider wuchs mit ihr auch die dogmatische Intoleranz gegenüber Hierarchien und eine falsch verstandene Basisdemokratie etablierte sich, mit dem Resultat, dass es in der Führung zu vielen Wechseln kam. 1981 bestellten wir den Verwaltungsrat neu. Hans Rudolf Bosshard-Hinderer wurde Präsident und Rolf Schumacher Delegierter des Verwaltungsrats, ab 1986 Verwaltungsdirektor. Gleichzeitig stellten wir einen Pflegedienstleiter ein. Chefarzt, Pflegedienstleiter und Delegierter des Verwaltungsrats führten gleichberechtigt die Klinik.»

Funktionierte das vom Verwaltungsrat lancierte Dreigespann der Chefs von Medizin, Pflege und Verwaltung?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Leider nein. Das Dreigespann war hierarchisch nicht gleichberechtigt. Zudem wurde die Verwaltung mit ihren wirtschaftlichen und finanziellen Verpflichtungen immer mehr zum Feindbild. Das selbsternannte Schlössliparlament sollte als Sprachrohr der Belegschaft vermitteln. Doch es beschäftigte sich praktisch nur mit sich selbst. Die Krankenabteilungen und deren Teams entwickelten sich zu abgeschotteten Inseln. Dies schlug sich unweigerlich in der Jahresrechnung nieder. Mit 344 aufgenommenen Patienten wurde 1989 der absolute Tiefpunkt erreicht – die niedrigste Patientenzahl seit 1936!»

Und ausgerechnet 1989 feierte das Schlössli sein 100 Jahr Jubiläum. Gab es unter diesen Umständen überhaupt etwas zu feiern?

Elisabeth Bosshard-Hinderer: «Ja, wir feierten unser Schlössli in Dankbarkeit, aber auch in Sorge, denn im Betrieb waren die Probleme gravierend, personell wie finanziell. Wir sahen uns gezwungen, Verwaltungsrat und Klinikleitung neu aufzustellen. Der Ökonom und Jurist Erwin R. Griesshammer trat neu in den Verwaltungsrat ein, und bereits seit 1988 arbeitete Dr. med. Gerhard Schmidt als ärztlicher Direktor im Schlössli. In den Neunzigerjahren verbesserten sich Bettenauslastung und Erträge. Wir bauten im Schlössli ein weiteres Patientenhaus, später einen grossen Kliniktrakt auf der ‘grünen Wiese’ und erneuerten das Bergheim in Uetikon umfassend. 1998 gründeten wir die Hinderer Holding AG. In arbeitsreichen Jahren schafften mein Mann, Erwin Griesshammer und ich mit der neuen Klinikleitung und ab 1999 mit meinem Sohn David den Turn-around. Auch mein Bruder, Dr. med. Gerhard Hinderer, wirkte wieder im Verwaltungsrat mit, dem er über drei Jahrzehnte angehörte. Ich übergab mein VR-Mandat nach 35 Jahren und zog mich über die Jahre aus dem Unternehmen zurück – wohlwissend, dass das Schlössli bei der fünften Generation, also meinem Sohn David J. Bosshard und später auch meinem Neffen Michael Schumacher, in den besten Händen war und noch heute ist.»

Vielen Dank, Frau Bosshard-Hinderer, für dieses Gespräch.