«Ich war mir jederzeit bewusst, was auf meinen Schultern lastet.»

Herr Dr. Max Hinderer, Sie haben 1954 die Anstalt Schlössli von Ihrem Vater Albert Hinderer übernommen. Ihr Vater war gesegnet mit einer schier grenzenlosen Tatkraft, er wirkte höchst motivierend auf Menschen und führte seine Mitarbeitenden voller Inspiration. Es sind grosse Fussstapfen, in die Sie traten?

Dr. Max Hinderer: «Mein Vater hat mir ein Lebenswerk hinterlassen, das ich mit grösstem Respekt, Hingabe und Leidenschaft weiterführen will. Auch ich werde all meine Energien bündeln und sie zum Wohle der Patientinnen und Patienten einsetzen. Aber Sie haben natürlich recht – die Fussstapfen sind gross!»

Sie haben den Verein Nervenheilanstalt Schlössli aufgelöst und neu den Betrieb als Einzelfirma im Handelsregister eintragen lassen. Ist das nicht ein hohes Risiko für eine Einzelperson, denn Sie haften nun mit Ihrem ganzen Vermögen für die Schulden?

Dr. Max Hinderer: «Ohne Zweifel bin ich ein grosses Risiko eingegangen. Der Preis des freien Unternehmertums war mir dies auf jeden Fall wert.»

«Der Preis des freien Unternehmertums war mir dies auf jeden Fall wert.»

In der Psychiatrie steht eine Zeitenwende an. Die lauten Wachsäle werden zu ruhigen Krankenstationen. Das liegt an den neuen Psychopharmaka. Was halten Sie von diesem Trend?

Dr. Max Hinderer: «Selbstverständlich sind die neuen Psychopharmaka eine grosse Unterstützung in der Behandlung von Patienten. Die Medikamente werden jedoch immer nur ein Hilfsmittel bleiben. Entscheidend für die Behandlung psychisch Kranker wird auch in Zukunft die psychotherapeutische Unterstützung sein. Wir dürfen uns auf keinen Fall dazu verleiten lassen, in unseren Anstrengungen um die Gestaltung des Milieus der Anstalt, um die Förderung der Beschäftigungstherapie und um individuelle ärztliche, seelsorgerliche und pflegerische Betreuung der Kranken nachzulassen.»

Zurzeit herrscht Hochkonjunktur. Die Wirtschaft boomt. Aber nur wenige Menschen finden den Weg bei der Berufswahl in die psychiatrische Krankenpflege. Ein Personalmangel könnte die Entwicklung der Psychiatrie und Psychotherapie akut bremsen. Was wollen Sie dagegen unternehmen?

Dr. Max Hinderer: «Meiner Erfahrung nach wird das Niveau einer psychiatrischen Anstalt weit mehr durch die Qualität des Pflegepersonals als der Assistenzärzte bestimmt. Wenn wir mit der Entwicklung der Psychiatrie Schritt halten wollen, muss die Ausbildung des Pflegepersonals an die zukünftigen, höheren Anforderungen angepasst werden.»

«Wenn wir mit der Entwicklung der Psychiatrie Schritt halten wollen, muss die Ausbildung des Pflegepersonals an die zukünftigen, höheren Anforderungen angepasst werden.»

Das ist höchst interessant. Aber wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Dr. Max Hinderer: «Das Schlössli allein kann keine eigene Schule auf die Beine stellen. Dies übersteigt unsere Möglichkeiten. Doch in einer beispiellosen, gemeinsamen Anstrengung der Anstalten Hohenegg, Kilchberg, Littenheid, Meiringen, Schlössli und der Anstalt für Epileptische ist es gelungen, einen Verein mit dem Zweck zu gründen, das berufliche Bildungswesen nach den Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie zu fördern, Ausbildungskurse für das Lernpflegepersonal zentral und schulmässig durchzuführen und eine private Nervenpflegeschule zu gründen.»

Das sind gute Neuigkeiten. Wird besser ausgebildetes Pflegepersonal die Psychiatrie positiv beeinflussen?

Dr. Max Hinderer: «Ganz ohne Zweifel – ja! Die psychiatrische Behandlung ist zu einem ausserordentlich differenzierten, vielschichtigen Gebilde geworden. Es ist gar nicht leicht, die körperlichen Behandlungsmethoden, die psychotherapeutische Beeinflussung, die Seelsorge, die Beschäftigungstherapie und die Freizeitgestaltung zu einem harmonischen Ganzen werden zu lassen. Dabei spielt das Pflegepersonal eine überragende Rolle. Gut ausgebildete Schwestern und Pfleger prägen das ganze Milieu auf der Abteilung und erstatten dem Arzt über ihre Beobachtungen zum Befinden und Verhalten der Kranken Bericht. In regelmässigen Besprechungen werden dann weitere Behandlungsmassnahmen von den Ärzten festgelegt.»

Dann besteht die Entwicklung in der Psychiatrie also aus den eingangs erwähnten, neuen Psychopharmaka und dem Pflegepersonal, das enger mit den Ärzten und Therapeuten zusammenarbeitet?

Dr. Max Hinderer: «Zu diesen beiden wichtigen Komponenten kommt noch eine dritte, entscheidende hinzu – das Milieu. Eine wichtige Voraussetzung für jede wirksame Therapie ist die Atmosphäre, das Milieu, in dem die Kranken leben. Das Milieu wird in erster Linie durch das Pflegepersonal und sein Verhalten geprägt. Auch Schwerkranke haben ein erstaunlich feines Empfinden für echte menschliche Wärme, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft sowie für die Achtung, die man ihnen entgegenbringt.»

«Eine wichtige Voraussetzung für jede wirksame Therapie ist die Atmosphäre, das Milieu, in dem die Kranken leben.»

Bleibt dabei die enge Verflechtung von Medizin und christlicher Seelsorge bestehen?

Dr. Max Hinderer: «Eine allmähliche Trennung zwischen Medizin und Seelsorge begann bereits kurz nach dem Tod meines Vaters Albert Hinderer. Dies war keine Abkehr von den christlichen Grundwerten, die wir seit drei Generationen leben, sondern ein Nebeneinander in gegenseitigem Respekt. Das Christliche ist zu einer Haltung verinnerlicht worden. Arzt und Seelsorger ergänzen sich zum Wohle der Patienten.»

Vielen Dank, Herr Dr. Hinderer, für dieses fiktive Gespräch.

Dr. Max Hinderer war ein Förderer auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie und machte das Schlössli zur renommierten Klinik. Er investierte laufend in die Infrastruktur seiner Privatklinik und sicherte seine Unabhängigkeit gegenüber dem Staat. In den Jahren seines Wirkens steigerte er die Bettenzahl und die Pflegetage und verdoppelte die Personalstellen. Das Schlössli und das Bergheim blieben als Einzelfirma in seinem privaten Besitz, bis er im Juni 1967 die Dr. med. Max Hinderer AG gründete.

Dr. Max Hinderer war einziger Verwaltungsrat, Chefarzt und Direktor. Er hielt darüber hinaus jede Woche einmal Sprechstunde in den Privatpraxen in Rapperswil und Glarus. Er war zudem im Gemeinderat in Oetwil am See, Mitglied der Spitalkommission des Spitals Männedorf und Aushebungsoffizier der Schweizer Armee.

Im März 1968 verbrachte Max Hinderer zwei Ferienwochen mit Fischerfreunden in Irland. Auf dem Rückflug ist die Maschine der Air Lingus abgestürzt. Alle 61 Passagiere kamen ums Leben. Die Irische See wurde Max Hinderers letzte Ruhestätte.